Artikel Psychotherapie  

Peter F. Schmid

Psyche & Politik
Zur Seelenlage der Nation

Einleitungs-Statement zur Politik-Matinee im Volkstheater Wien
am 22. 10. 2000

Zusammenfassung, Stichwörter
Text | Paper
Die Politikmatinee "Psyche & Politik"

Zusammenfassung

Nach einer satirischen Beschreibung österreichischen Selbstverständnisses wird die These aufgestellt, dass in Österreichs Politik eine bewusste Auseinandersetzung mit der seelischen Befindlichkeit der Menschen kaum stattfindet. Aus psychotherapeutischer Sicht müsste Politik die Dinge beim Namen nennen und die Wahrheit den Menschen zumuten. Psychotherapie ihrerseits müsste sich viel stärker gesellschaftspolitisch engagieren. Einen Ansatzpunkt für beide bietet das Personverständnis der neuen EU-Grundrechts-Charta.

Stichwörter

Gesellschaftspolitik, (Personzentrierte) Psychotherapie, seelische Befindlichkeit, Ethik, Personbegriff.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich habe die Aufgabe übernommen, kurz das Themenfeld aufzubereiten. Gestatten sie mir, dass ich es pointiert tue. Ich tue es aus dem Blickwinkel eines Therapeuten, der Psychotherapie nicht bloß als Heilkunst versteht, sondern in umfassendem Sinn als Kulturkritik. Und ich werde es nicht ausgewogen bringen, ich werde bewusst einseitig den Finger auf das legen, was ich als „das hierzulande Gewöhnliche“ wahrnehme.

I.  "Taxi Orange" und Österreich

Österreich ist ein bisschen wie die sogenannte Reality-Show „Taxi Orange“: Österreich – eine Wohngemeinschaft von Menschen, die meinen, schön zu sein, beliebt zu sein, und gut Auto fahren zu können. Als Österreicher braucht man kein Scheich zu sein, um reich zu sein und damit auf der Siegerstraße und in der Stadtoase unterwegs zu sein (früher hieß das „Insel der Seligen“). Fesch und lieb und alles Inländer. Ist man beliebt, ist man immun; es kann einem nichts passieren. Um zu gewinnen, muss allerdings immer wer anderer hinausgehaut werden. Diese schreckliche Aufgabe — für die man sich des vollen Mitgefühls aller anderen sicher sein kann, wenn’s einen trifft, wenn man also das Opfer der eigenen Beliebtheit wird — sollen möglichst andere erledigen. Man engagiert sich sogar gesellschaftspolitisch: Thematisiert werden vornehmlich jene Ängste, die weit weg und ganz unpersönlich sind, Temelín beispielsweise — da draußen und dort drüben, also irgendwo im Osten oder so. Das stört uns, wenn wir unsere Melange trinken und es uns in unserem Kutscherhof einrichten. „Das Leben ist ein Hit.“  Den Tod gibt es natürlich auch, aber Gott sei Dank nur bei Pferden draußen. Drinnen gibt es dafür ein liebes kleines Kätzchen. Das bekommt man sogar geschenkt. Wirklich ernst ist das Ganze nicht, weil es ja ein Spiel ist. Show und Reality, nicht Realität. Die Regeln werden vorgegeben und von außen, von der „Galaktika“, gemacht. Scheinbar ist alles spontan und authentisch. Eine öffentlich–rechtliche Pseudoselbsterfahrungsgruppe mit Publikum, erfunden um der Quote, also der Beliebtheit willen.

Und das schönste: Das machen einige stellvertretend und viele schauen zu. Tag für Tag, womöglich rund um die Uhr.

Orange ist als politische Farbe noch nicht vergeben.

II. Eine Untersuchung zum österreichischen Selbstverständnis

Nach einer repräsentativen IMAS-Untersuchung von Juni/Juli 2000 (Kathpress Infodienst 233 v. 8.10.2000) treffen die Österreicher folgende Selbstzuordnung zu Gruppen. Ich nenne die Spitzenplätze: 
45% zählen sich zu den Ordnungsliebende,
43% zu den Umweltbewussten, 42% zu den Heimatverbundenen, 41% zu den Menschen, die viel Wert auf Sicherheit legen (gleichauf mit jenen, die sich als "Weltoffene" bezeichnen.)

III. Was der Österreicher mag und was der Österreicher nicht mag

Unter den vielen Eigenschaften, die das Selbst der Österreicher, „die österreichische Seele“, wie man seit Erwin Ringel (Die österreichische Seele. Zehn Reden über Medizin, Politik, Kunst und Religion, München, Europa-Verlag 1987), treffend sagt, kennzeichnen, seien im Hinblick auf unser Thema einige wenige — thesenartig — herausgegriffen.

1. Selbstbewusstsein
Was der Österreicher nicht mag, ist, wenn man ihn nicht mag – aber das sagt man so nicht. Der Österreicher und die Österreicherin sind, wenn man so will, quotengeil hinter der Maske der Bescheidenheit. Der Österreicher lebt in der ständigen, aber nie eingestandenen Angst, dass er abgeschaltet wird, dass er von der Bildfläche verschwindet.

2. Identität
Was der Österreicher mag, ist seine Ruhe haben. Gemocht wird man dann, wenn man in Ruhe gelassen wird. Was der Österreicher nicht mag, ist auffallen. Der Österreicher lebt in einem kleinen Land, einem schönen, und das dürfen die anderen anschauen kommen, aber dann sollen sie wieder gehen. Was der Österreicher nicht mag, ist, dass sich andere da dreinmischen.

3. Aggressivität und Schuldzuweisung
Was der Österreicher nicht mag, ist aggressiv zu sein. Was der Österreicher mag, ist kuscheln. Auch nicht allzu viel, aber der Kuschelkurs untereinander ist allemal beliebter als Konfliktaustragung. Bitte, bis aufs Autofahren. Aber das hängt damit zusammen, dass die anderen so deppert fahren. Denn der Österreicher selbst ist kein Versager, bei Gott nicht. Doch es wird ihm so oft übel mitgespielt. Die anderen sind schuld. Der Österreicher hat auch keinen Minderwertigkeitskomplex. Der Österreicher empfindet gern Schadenfreude. Notfalls bringt sich der Österreicher um. Das haben die anderen dann davon.

4. Solidarität
Was der Österreicher mag, ist wenn etwas passiert, dass es seinem Nachbar passiert. „Und dann“, sagt der Herr Karl bei Helmut Qualtinger, "wenn i so da lieg und die Rettung fahren hör: tatü tatü, dann denk i mir: Karl, du bist des net. Das Florianiprinzip ist der österreichische Abwehrmechanismus par excellence. „Solidarität“ – ? Ist der Titel einer Gewerkschaftszeitschrift.

5. Autorität
Was der Österreicher mag, ist, dass alles seine Ordnung hat und jemand drauf schaut, dass die auch eingehalten wird. Der Österreicher mag Autorität und Obrigkeit, vor allem, wenn sie’s nicht so genau nimmt und versteht, dass die Spielregeln zwar für alle gelten und einzufordern sind, aber man selbst jeweils eine Ausnahme darstellt. Was der Österreicher mag, ist auf die da oben zu schimpfen, aber nicht wirklich gegen sie aufzutreten. Was der Österreicher mag, sind Denkzettel, aber keine wirklichen Veränderungen. Was der Österreicher mag, ist, wenn sich einer was traut da oben. Aber zuviel soll es natürlich auch wieder nicht sein.

6. „Stellvertretende Gefühle“ und Neid
Was der Österreicher mag, ist bei Gefühlen zuzuschauen. Was der Österreicher nicht mag, ist, dass es andere besser haben als er selbst. Nein, der Österreicher ist nicht neidig, er ist nur für Gerechtigkeit. Was der Österreicher mag, ist, dass er als sozial angesehen wird und andere als Sozialschmarotzer auffliegen. Der Österreicher ist gern stolz auf seine Leistungen. Was der Österreicher nicht mag, ist, wenn die Begonien im Blumenkistl vor dem Fenster des Nachbarn ein bisserl schöner sind als im eigenen. 

7. Opfermentalität und Umgang mit der Vergangenheit
Was der Österreicher mag, ist, wenn er sich als Opfer sehen kann. Der Österreicher tut niemandem etwas zu Leide. Es gibt fast nichts Unangenehmes, was sich nicht damit erklären lässt, dass einem etwas angetan worden ist: Wir sind klein, die gehen auf uns los, wir haben doch gar nichts getan. Das war beim Hitler so, beim Waldheim, bei den Sanktionen. Warum haben die immer was gegen uns? Außerdem haben die EU-14 eh einen großen Fehler gemacht: Wenn sie uns wirklich hätten reizen wollen, hätten sie schon den Hermann Maier sperren müssen. Der Österreicher ist für den Beitritt und die EU, allerdings hat er den Beitritt der EU zu Österreich gemeint. Irgendwer muss das falsch verstanden haben. Was der Österreicher mag, ist die gute alte Zeit, aber nicht die eigene Vergangenheit. Darum sollen es die Kinder auch besser haben, als man selbst – ob sie das nun wollen oder nicht.

8. Umgang mit „den Schwachen“: Gleichberechtigung, Kinder, Minderheiten
Der Österreicher ist für die Gleichberechtigung. Frauen sollen kriegen, was ihnen zusteht. Das darf man ruhig als gefährliche Drohung verstehen. Der Österreicher ist kinderlieb. Die Leute sollen Kinder kriegen, damit jemand unsere Pensionen zahlt. Bei uns selbst geht’s leider nicht, weil wir haben beide keine Zeit dafür. Gegen die Warmen, gegen die Tschuschen und gegen die Neger haben wir nichts, aber sie sollen daheim bleiben. Natürlich: Leben und leben lassen; aber bitte so, wie wir uns das vorstellen, wie es „normal“ ist. Wenn sich jemand beleidigt fühlen sollte, so entschuldigen wir uns natürlich dafür. Man muss uns offenbar missverstanden haben.

9. Kunst
Der Österreicher ist für die Kunst, selbstverständlich. Zum Beispiel für die Oper, die Sängerknaben und die schönen Gartenzwerge. Zur Kunst gehören natürlich auch die Künstler; aber wenn einer noch lebt, so kann er eigentlich kein Künstler sein, höchstens ein Verrückter. „Man muss tot sein, damit sie einen leben lassen“, hat schon Gustav Mahler festgestellt.

10. Religion
Der Österreicher ist kein wirklich katholischer Mensch mehr, das ist man heut nicht mehr so. Man braucht sich die Kirche ja nur anzuschauen. Aber irgendein höheres Wesen muss es natürlich schon geben. Schon wegen der ausgleichenden Gerechtigkeit: Da werden die anderen dann endlich zur Rede gestellt. Doch der Herrgott muss ein Weaner sein, deswegen wird er’s bei uns nicht so genau nehmen.

11. Sexualität
Was der Österreicher mag, ist wenn man ihn für einen tollen Hengst hält. Was der Österreicher mag, sind Stammtischwitze, Palmers-Plakate und Sexvideos. Manchmal mag er auch richtige Frauen. Was der Österreicher nicht mag, ist über Sex zu sprechen. Den macht man oder nicht, aber da redet man nicht darüber.

12. Angst, Krankheit und Tod
Was der Österreicher nicht hat, ist Angst. Wovor auch? Dem Österreicher gehen zwar viele Dinge auf die Nerven, sie magerln ihn und es kommt ihm die Galle hoch, aber der Österreicher hat keine psychosomatischen Krankheiten. Natürlich wird jeder hin und wieder krank; aber nicht ernst. Wenn’s wen erwischt, war’s Pech. Aber Angst – was soll das sein?

Eine solche "Psychopathologie der Nation" ließe sich beliebig fortsetzen.

Sie können allein aus den Reaktionen auf diese Phänomene schon ein Regierungsprogramm machen oder die bisherigen Regierungsprogramme analysieren — und ich meine, je nach der Zusammensetzung der beteiligten politischen Parteien wird nur die Akzentverschiebung innerhalb dieser Punkte etwas variieren.

IV. Die gesellschaftspolitische Verantwortung der Psychotherapie

Die österreichische Erfindung Psychotherapie ist mit diesen Varianten des Seelenlebens bestens vertraut. In ihren emanzipatorischen, auf Persönlichkeitsentwicklung ausgerichteten Orientierungen hat sie längst erkannt, dass es in der Konfrontation mit all diesem selbstschädigenden Nicht–wahrhaben–Wollen in den verschiedensten Lebensbereichen nur eines gibt: das Ansprechen und Thematisieren, um eine bewusste und personale Auseinandersetzung zu ermöglichen.

Sie hat meines Erachtens allerdings bislang zu individuell darauf reagiert. An der eigenen Zunft, so meine ich, ist durchaus die Kritik anzubringen, vorwiegend individualistisch darauf reagiert zu haben und sich in den gesellschaftspolitischen Diskurs nicht wirklich eingemischt zu haben. Da sind auch die standespolitischen Probleme, etwa der Kampf gegen die skandalöse Verweigerung einer angemessenen Kassenhonorierung von Psychotherapie, keine Entschuldigung. Vereinzelte Stellungnahmen sind zu wenig. Nur grün oder liberal zu wählen oder irgendwie links zu sein, ist zu wenig. Die gesellschaftliche Bilanz nach einhundert Jahren Psychotherapie sieht nicht besonders strahlend aus. Die Psychotherapie, so meine ich, ist gefordert, ihre vornehme Zurückhaltung, vielleicht ist es auch bloß elitäre Feigheit, aufzugeben.

 V. Die Verantwortung der Politiker

Damit sind wir bei der Politik. Sehr vereinfacht und verkürzt ausgedrückt, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass weite Teile des österreichischen politischen Diskurses aus psychotherapeutischer Sicht ausschließlich "reaktionär" sind. Politik ist da oft ein mehr oder weniger bewusstes Verstärken der  geschilderten (und anderer solcher) Phänomene — im Sinne eines geradezu reflexhaften Re-Agierens, ja eines Kalkulierens, was beim Wähler wie ankommt oder: "was man dem Wähler zumuten darf". 

Wer aber nur re–agiert, handelt re–aktionär.

Das Feld wird weitgehend einem sogenannten einfachen Parteimitglied überlassen, das es versteht, virtuos auf dem Klavier der österreichischen Seele zu spielen und jene Töne anzuschlagen, die gerade opportun sind und gebraucht werden. 

Selbstbewusstsein? Am besten durch Feindbilder.
Aggression? Am besten gegen  Minderheiten und durch Schuldzuweisungen an Einzelne.
Solidarität mit Schwächeren? Stattdessen lieber der Aufruf zum Schulterschluss.
Auseinandersetzung mit Autorität und Obrigkeit? Wird ersetzt durch Vernadern und Schüren von Neid.
Vergangenheitsaufarbeitung? Warum immer wir? Die anderen haben doch auch.
Angst? Haben wir nicht, denn wir haben einen, der sich was traut.

Das tut dem österreichischen Ego gut.

Da wird schamlos und unverhüllt mit Angst und Aggression, mit Neid und Verhetzung Politik gemacht, indem die wesentlichen Themen gerade nicht thematisiert werden, sondern statt dessen billige Lösungen angeboten werden.

Einer gibt das Tempo und die Richtung vor. (Und jeder Gruppendynamiker weiß, dass das nicht das Werk eines einzelnen Wildgewordenen ist, sondern dass er sich des Auftrag eines wichtigen Teils der Gruppe verpflichtet fühlen und dessen sicher sein muss, damit das möglich ist.)

Die Antwort anderer Parteien – ich weiß, ich vereinfache – ist vielfach entweder konkurrenzierendes Kopieren ("Wer hat die schöneren Zähne beim Lachen?") oder vorauseilender Gehorsam  ("Wer macht die restriktivere Ausländerpolitik?") beziehungsweise es besteht im Verharmlosen und Wegschauen oder im Schweigen in der trügerischen Hoffnung, das würde sich von selbst erledigen. Angst und daraus resultierende Aggression erledigen sich aber nie von selbst. Schweigen aber liegt nahe am Verschweigen, und es kann auch zynisch sein. Jedenfalls ist es meilenweit weg vom Thematisieren.

Eine bewusste Auseinandersetzung mit der Seelenlage der Nation findet in all diesen Fällen nicht statt. Die von mir vorhin angesprochenen Inhalte und Lebensfelder und die damit verbundenen Probleme werden nicht wirklich thematisiert.

Als Psychotherapeut wünsche ich mir Politiker, die die Dinge beim Namen nennen.
Ich wünsche mir Politiker, die der Überzeugung sind, dass die Wahrheit auch in der Politik den Menschen zumutbar ist.

Ich wünsche mir Politiker, die die Realität ansprechen statt eine Reality Show zu veranstalten.
Ich wünsche mir Politiker, die sich der Angst stellen, statt sie reflexartig zu instrumentalisieren.
Ich wünsche mir Politiker, die sich als kritische Instanz verstehen und denen Populismus ein Gräuel ist.
Ich wünsche mir Politiker, die sich mit der Seelenlage der Menschen auseinandersetzen, indem sie sich empathisch in die Menschen einfühlen und sich wirklich von dem betreffen lassen, was da zu spüren ist, statt mittels kognitiver sozialer Perspektivenübernahme abzuchecken, welche Reaktion wie ankommen wird.
Ich wünsche mir Politiker, die die einfachsten Grundgesetze menschlicher Entwicklung ernst nehmen (etwa so grundlegender Tatsachen wie die notwendige Zeit, die ein Prozess, wie jener der europäischen Integration, braucht, und dass das nicht ohne Aufarbeitung aller mit dem Nationalismus verbundenen Einstellungen möglich ist oder einfacher gesagt: dass man die Pubertät nicht überspringen kann.)
Ich wünsche mir Politiker, die sich ihrer Macht bewusst sind und sie als Verpflichtung zur Ermächtigung der Menschen, zur Förderung von Persönlichkeits– und Gesellschaftsentwicklung, zur Unterstützung von Emanzipation verwenden.
Wie sieht eine sozialdemokratische, christlichsoziale, grüne, liberale Politik der Förderung von Emanzipation aus?
Ich wünsche mir Politiker, die sich in diesem Sinne als Facilitator verstehen, als Personen, die das Personwerden der Menschen in diesem Land fördern.
Ich wünsche mir Politiker, die Politik als eine ethische Disziplin ansehen und daher sich ihrer – ja, so muss man es nennen – therapeutischen Verantwortung in diesem Sinne bewusst sind.

VI. Den Menschen als Person fördern

Für einen Personzentrierten Psychotherapeuten, der ich bin und zu dessen zentraler therapeutischer Philosophie die Förderung der Entwicklung der Persönlichkeit gehört, ist es mehr als interessant, die neue EU-Grundrechts-Charta zu lesen.

Ganz am Anfang der Präambel heißt es dort: „In dem Bewusstsein ihres geistig–religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität; [...] Sie stellt die Person in den Mittelpunkt ihres Handelns“.

Unter Person versteht die abendländische Philosophie, das hier beschworene und zitierte Erbe, der Mensch als gleichermaßen selbstständiges wie beziehungsangewiesenes Wesen. Der Begriff benennt Eigenständigkeit wie Gemeinschaftsverwiesenheit, Autonomie und Solidarität, Souveränität und Engagement in unaufgebbarer Verbundenheit und dialektischer Verschränkung.

Den Menschen als Person zu fördern, also Autonomie zu fördern (jedem das Seine)  u n d  Solidarität zu fördern (jedem das Seine); Persönlichkeitsentwicklung als untrennbar mit Gesellschaftsentwicklung zu sehen — das ist ein therapeutisches wie ein politisches Programm. Meine Frage an die Politiker — und ich möchte es als ehrliche und ernst gemeinte, nicht als rhetorische Frage verstehen —: Was macht das in Österreich offenbar so schwer?

Ich danke Ihnen.



Vgl. Kromp, Renate / Neuwirth Christian, Wende mit gespaltener Seele, in: News 43 (2000) 46-50
Vgl. Schmid, Peter F., Was der Österreicher mag und was gar nicht. "Österreichische Seele": Ein ironischer Befund des Psychotherapeuten Univ.-Doz. Peter F. Schmid. Auszug aus einer Rede bei der Politikmatinee von News und Radio Wien, in: News 43 (2000) 50


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