Günter Virt

Der Mensch als Statue Gottes — ein Arbeitstitel


Wien, 20. Mai 2000

Lieber Peter, sehr geehrte Damen und Herren!

Ein so schönes Symposion zum Geburtstag von Peter Schmid hat auch theologische Wurzeln. Da ich als theologischer Ethiker keine wissenschaftliche Grenzüberschreitung vornehmen möchte, mein Fach aber integrativ verstehe, füge ich dem vielfach und so humorvoll abgehandelten Thema: "Klopapier" nur eine kleine politologische Bemerkung hinzu: Bis vor gar nicht langer Zeit bestand in den kommunistischen Staaten die – in ihrer ethischen Begründung keineswegs unumstrittene – Verpflichtung, diese besondere Art von Papier doppellagig zu verwenden, da jeder Durchschlag nach Moskau musste. Damit möchte ich meinen Beitrag zu diesem Thema abschließen und die drei im Programm genannten Titel etwas modifizieren:

Woher kommen wir?
Wer sind wir?
Wohin gehen wir?

Woher kommen wir?

Sehr persönlich, aus meiner Verbundenheit mit Peter, möchte ich die Frage kurz und bündig beantworten – aus der Wüste. Wir, das heißt: das Gottesvolk ist in der Wüste erst zu diesem geworden. Dort in der Wüste, nach der gelungenen Flucht aus dem Konzentrationslager, wurden die israelitischen Stämme dessen inne, dass nicht nur sie, sondern alle Menschen aus dem Nichts kommen: Aus dem Nichts der eigenen Voraussetzungen, der eigenen Leistung, aus dem Nichts dessen, was man angeben, wägen, messen und zählen könnte; dieses Nichts aber erweist sich als die Fülle des Lebens und der Beziehung, dieses "Nichts" führt uns in die Weite, die nirgends so wahrgenommen werden kann wie in jener Landschaft, die einem einfach "aufmacht" und zur Wahrheit zwingt. In diese Wüste wurde nach den vielfältigen Abfallprozessen das Gottesvolk immer wieder hinausgeführt. Auch wir, lieber Peter, sind gemeinsam als wir noch jung waren, in die Wüste gefahren und als Zeichen der Erinnerung darf ich Dir mein Bilderbuch ("Ich habe Dich in die Wüste geführt") überreichen und eine Flasche Wein, damit Du beim Anschauen nicht verdurstest. Dem Volk, das durch die Wüste kam, verdanken wir die Bibel. Was sagt dieses Buch auf die Frage:

Wer sind wir?

Norbert Lohfink hat in seiner neuesten Studie zum Buch Genesis eine überraschende neue Übersetzung gewagt und gut belegt. Genesis 1, 27: "Gott erschuf den Menschen als seine Statue, als Gottesstatue schuf er ihn, männlich und weiblich erschuf er sie." Nach Genesis 1 ist die ganze Schöpfung ein Kunstwerk, Gott ist der Künstler. Der Mensch, die Gottesstatue ist Kunstwerk im Kunstwerk. Gott selbst ist nicht greifbar und anschaubar da, aber die Statue ruft ihn ständig in Erinnerung. Die Statue evoziert den Hinweis auf den Künstler. Statue besagt Bezug zwischen denen, die sich ihr nähern und dem, den sie repräsentiert. Das ist die Ouvertüre zur ganzen Bibel: Eine unglaubliche Einheit von Mensch und Schöpfung. Der Mensch und alle Geschöpfe bewohnen ein einziges Haus und der Mensch hat nur dies voraus, dass er für die anderen Geschöpfe eben Gottes Statue ist. Als Statue Gottes und königlicher Hirt, hat er die Tiere zu weiden und die Schöpfung zu pflegen. Die Sorge für die Mitgeschöpfe ist seine Auszeichnung. Alles wird pervertiert, wenn einzelne Menschen meinen, diese Qualität im Anderen missachten zu können und beginnen sich über andere zu erheben und sie zu unterwerfen. Die Kunst, die für Dich, lieber Peter, zu einem wichtigen Bereich Deines Lebens geworden ist, und die Theologie haben hier an der Wurzel miteinander zu tun. Aus der Erfahrung, dass diese Statue Gottes auch eine Tiefenstruktur hat und das Verständnis des Menschen nur von seiner Rationalität und nur von seinem Willen her ihn unsäglich verkürzt, hast Du Dich der Tiefenpsychologie zugewendet; damit diese Statue immer besser von allen Seiten in den Blick kommt und gewürdigt wird.

Wenn in unserer Zeit diese Qualität des Menschen weithin nicht mehr gesehen wird und eine Spaltung des Menschlichen droht, ist die Erinnerung an diese gemeinsame Wurzel im Verständnis unseres Menschseins besonders dringlich. Geringer sollten wir vom Menschen in der Folge nicht mehr denken. Solche Bedrohungen kommen in Theorie und Praxis vielfältig – für wache Zeitgenossen überdeutlich sichtbar – auf uns zu. Wenn in den neoliberalen Wirtschaftszwängen Menschen eingeteilt werden in solche, die bestehen können, und solche, die dies nicht können. Wenn ein vielgelesener Medizinethiker, Peter Singer, die Menschen einteilt in solche, die bestimmte Leistungen erbringen, und solche, die diese nicht erbringen und dann zwar Menschen, aber keine Personen sind und vernichtet werden dürfen, um anderen Platz zu machen. Wenn die Menschen von Peter Sloterdijk zum Beispiel "visionär" in solche geteilt werden, die von Wissenschaftlern entsprechend manipuliert zu einem genetisch gestylten Exemplar gehören, und solche, die nicht dazugehören. Diese Spaltungen des Menschlichen, die wir in Theorie und Praxis um uns herum alltäglich erleben können, ließe sich beliebig vermehren und führt schnurstracks in eine neue Sklavenmoral. Das Bild vom Menschen als Gottesstatue, Einheimische wie Fremde gleichermaßen, möge uns davor bewahren. 

Wohin gehen wir?

Wer dieser Mensch am Ende sein wird, entzieht sich unseren Blicken. Die Statue Gottes ist unvollendet. Und jeder Mensch stirbt in einer bestimmten Weise unvollendet, denn vollendete Menschen kennen wir nicht. Erst vom Ende her kann dieser Mensch ganz gesehen werden, wenn wir dort angekommen sind, wohin wir gehen. Auch dafür möchte ich Dir, lieber Peter, ein kleines Zeichen in Form meines letzten Buches "Leben bis zum Ende" überreichen, mit allen guten Wünschen auf dem Weg zu diesem Ziel (womit Du erkennen mögest, dass Moraltheologie die Lehre vom guten Leben ist).

Dr. Günter Virt ist Ordinarius für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Leiter des Senatsinstituts für Ethik in der Medizin.

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