Peter Frenzel

Über den Mut zur Demut
Ein Brief an Peter F. Schmid zu seinem 50. Geburtstag

Wien, 20. Mai 2000

Wien, im Mai 2000

Lieber Peter!

Die Fragen, die du mir stellst  – Wie führe ich ein ehrenwertes Leben? oder "Werden sie im Jenseits auch genügend Klopapier haben?" – sind, wie Heinz v. Förster es nennt, typische "unentscheidbare Fragen", die man – gerade wegen ihrer Unentscheidbarkeit – so dringend persönlich beantworten muss.

Die zehn Minuten, die mir dafür zur Verfügung stehen, können nur zu einer Demonstration meines Nichtwissens werden. Ich nutze die Zeit vielleicht am besten eine längst überfällige Liebeserklärung in Form eines persönlichen Briefes an dich zu versuchen.

Als Einstieg möchte ich dir dazu eine Geschichte schenken, die von Niels Bohr erzählt wird:

Niels Bohr, der berühmte Atomphysiker, bekam eines Tages Besuch von einem seiner Freunde und Berufskollegen. Als sich beide dem Wochenendhaus von Niels Bohr näherten, bemerkte der Gast ein Hufeisen, das über der Eingangstür angebracht war. Erstaunt sagte er zu seinem berühmten Kollegen: "Also das wundert mich jetzt wirklich. Ein Hufeisen – an ihrer Eingangstür? Das hätte ich nicht von ihnen gedacht." Niels Bohr schmunzelte und sagte: Naja, wissen sie man hat mir versichert, so etwas hilft auch, wenn man nicht dran glaubt."

Lieber Peter, du kennst mein Denken, das du ja auch so entscheidend mitprägst und so könntest du wahrscheinlich ahnen, was mich an dieser Geschichte so anspricht:

Als Konstruktivist:

und darin steckt tatsächlich Mut, über den ich noch sprechen will,

(bei dir muss man vielleicht in einem besonderen Maße von der Mehrzahl - also von Subkulturen sprechen, in denen du dich mit jeweils bemerkenswerten Erfolgen bewegst – man muss sich dazu nur die Buntheit der hier versammelten Personen vor Augen führen).

Als Personzentrierter Psychotherapeut gefällt mir an dieser Geschichte:

und damit also – zusammengefasst

Die Psychotherapie.

Dir ist sicher nicht entgangen, dass mein gewählter Titel – "Über den Mut zur Demut" – als Antwort auf deine beinahe zen-buddhistisch anmutenden Fragen nicht nur einen paradoxen Appell formuliert, sondern wie eine Art personzentrierter Wegweiser auch als eine fragmentarische Beschreibung für den psychotherapeutischen Prozess aufgefasst werden kann, der – wie wir ja gerade im personzentrierten Kontext vermuten – ein Stück Weges hin zu einem ehrenwerten Leben bringen kann.

Wenn ein ehrenwertes Leben unter anderem darin besteht, im Bewusstsein der eigenen Bedeutung für den Anderen und im Bewusstsein der eigenen Begrenztheit, im alltäglichen Leben stets so zu handeln, dass die Autonomie sowie die Würde des Anderen und meiner selbst unangetastet bleibt,

wenn ein ehrenwertes Leben bedeutet, sich dafür einzusetzen, dass Welten konstruierbar bleiben, die für alle gangbar sind, Welten also, die der sogenannten "Wirklichkeit" ihren Möglichkeitscharakter zuerkennen,

wenn ein ehrenwertes Leben somit ein Pluriversum schaffen hilft, das uns Öffnungen ins Unbekannte erlaubt und die unermessliche Vielheit der Möglichkeiten bezeugt und erhöht, 

wenn ein ehrenwertes Leben also – knapper gefasst – die Ehrfurcht vor dem Leben fördert,

dann macht es Sinn hier von vier der gefährlichsten Feinde des Lebens zu sprechen. Und da wäre zuallererst:

Die Angst.

Diese Angst, die klein macht und die Seele frisst, ist dir durch deine psychotherapeutische Arbeit als erster Feind des Lebens nur allzu bekannt.

(An dieser Stelle könnte man eine Abhandlung darüber beginnen, dass die Psychotherapie häufig erst einmal die Vorbedingungen entwickeln hilft, die Fragen nach einem ehrenwerten Leben überhaupt einmal entdecken und formulieren zu können.)

Lieber Peter, wir beide wissen, wie berufen gerade ich, aus unserer gemeinsamen Geschichte heraus, bezeugen kann, dass gerade dir in einer selten entwickelten und zutiefst personzentrierten Weise die Fähigkeit gegeben ist, eigenen – ungeahnten – Mut zu wecken. Wenn ich dann noch an unsere kollegiale Zusammenarbeit und deine häufigen "Husarenstücke" dabei denke, dann bieten sich mir viele Gelegenheiten, nie zu vergessen, dass man sich in Gefahr begeben muss, wenn man ihr nicht unterliegen will.

Schon dieses Geburtstagssymposion ist eine weitere solche Gelegenheit: Nach einer ersten – durchaus weitreichenden – Irritation darüber, wie man denn - noch dazu anlässlich des eigenen Geburtstages – und dann in aller Öffentlichkeit – eine solche Frage stellen kann, ist mir dann nach und nach klargeworden, was für ein chancenreiches Risiko du – schon wieder – eingehst und wie selbstverständlich du andere in diese Gefahrenzonen mitnimmst.

Doch Vorsicht – eine allzu routinierte Vertrautheit im Umgang mit dem Risiko bringt uns in die Nähe des nächsten Feindes, den zu stellen gerade im Kontext der Frage nach dem ehrenwerten Leben besonders dringlich scheint:

Die Sicherheit.

Ich rechne dir hoch an, dass du durch die Wahl des zweiten Teils deiner Fragen, der uns in Räume führt, die wenig geeignet sind uns den profanen Alltag vergessen zu lassen, eine Warnung mitgibst.

Eine Warnung vor allzu ernsten, womöglich altklugen Verstiegenheiten in das moralisch Sichere. Erkennen wir aus dem gemeinsamen personzentrierten Denken und Handeln heraus das kompetent und sicher scheinende Expertentum für unser Stammgebiet – die Psychotherapie – schon grundsätzlich als gefahrvoll, so muss uns eine behauptete Expertise für ein ehrenwertes Leben überhaupt verdächtig sein.

Gerechtigkeit ist eine Idee, die man im Bewusstsein festhalten sollte, dass sie gerade in unseren Verhältnissen immer nur eine Idee bleiben muss.

Zitat: "Man kann und soll ihr (also der Gerechtigkeit) zuarbeiten – bündig installieren aber kann man sie nicht. Es ist leichter, Ungerechtigkeit aufzudecken, als Gerechtes zu tun. Nicht das Gute liegt in unserer Hand, sondern das weniger Schlechte. Man kann den Widerstreit nicht aufheben. Aber man kann dafür sorgen, dass seine stillschweigende Tilgung nicht unbemerkt bleibt und dass fortan anders mit ihm umgegangen wird." [Welsch, W. (1988), Unsere postmoderne Moderne, Weinheim (VCH) 1988, 240]

Dieses Zitat von Wolfgang Welsch, dem postmodernen Philosophen, mag als guter Beleg dienen, dass alle tiefergehende Überlegung in die Bescheidenheit mündet.

Mit deinen gelehrten Ausführungen zur Dialektik des Personbegriffs und deinen praxisnahen und ausführlichen Hinweisen auf die Autonomie und Beziehungsangewiesenheit der Person hilfst du uns Personzentrierten Psychotherapeuten und -therapeutinnen ein dem Gegenstandsbereich zugleich angemessenen bescheidenes wie auch weitreichend verantwortungsbewusstes Aufgabenverständnis im Prozess der Therapie zu entwickeln.

Ein Aufgabenverständnis, das sich übrigens verblüffend gut mit Modellvorstellungen der Physik (Stichwort: Synergetik), der Neurobiologie (Stichwort: Autopoiese) oder mit systemtheoretischen oder chaostheoretischen Modellvorstellungen begründen lässt. Sie alle führen – und das zeigt, welch hohe Aktualität der Personzentrierte Ansatz nach wie vor aufweisen kann – zu einer neuen Bescheidenheit hinsichtlich unserer Möglichkeiten, zielsichere Interventionen mit prognostizierbarer Wirkung zu setzen. Dass die Demut sich besonders aus den aktuellen Naturwissenschaften herleiten lässt, ist ein schönes Beispiel für die manchmal feine Ironie ideengeschichtlicher Entwicklung.

Eine derartige Bescheidenheit, die damit nicht nur keine Zier mehr ist und auch keine "nur" ethische Positionierung, sondern womöglich eine besonders viable Beschreibung zum Handeln mit den "Wirklichkeiten" im therapeutischen Beziehungsgeschehen, forderst du von uns Personzentrierten Psychotherapeutinnen und -therapeuten als Öffnung – ja Hingabe – an unsere Klienten und Klientinnen ein. Du vertiefst unser Verständnis davon, dass uns diese Form der Solidarität und Selbstbescheidung nicht nur vor der trügerischen Sicherheit, sondern auch vor dem dritten Feind des Lebens schützen kann:

der Macht:

Ich durfte und konnte dich, lieber Peter, in vielen Gelegenheiten als jemanden erkennen, dem – so wie mir selbst – eine möglichst radikale Demokratisierung psychotherapeutischer Praxis und Ausbildung ein echtes Anliegen ist.

Ich freue mich, im Rahmen des Instituts für Personzentrierte Studien gemeinsam mit dir das vielleicht bedeutsamste Vermächtnis von Carl Rogers als Herausforderung aufnehmen zu können, indem wir versuchen, einer besonders schädlichen Ausprägung der in unserer Gesellschaft so vielfältig vorherrschenden Expertokratie entgegenzutreten. Eine subtil entmündigende Herrschaft von Menschen über Menschen muss unweigerlich sich ereignen, wenn man mit einem dem Paradigma der traditionellen Medizin kompatiblen Aufgabenverständnis meint, seelisches Leiden reparieren, abtrainieren, kurieren, umprogrammieren – eben schlicht und einfach beseitigen zu können.

Versteht man – vor dem Hintergrund eines personzentrierten Menschenbildes und einer daraus sich ergebenden politischen Überzeugung – Psychotherapie als einen gar nicht so unbedeutenden Beitrag, entmündigende, klein- und damit krankmachende Machtverhältnisse nicht direkt zu bekämpfen – was Aufgabe politischer Arbeit sein soll und bleiben muss –, sondern als Beitrag ihre Voraussetzung, nämlich den Gehorsam, zu schwächen, dann findet man in deinen theoretischen Beiträgen genauso wie in deiner praktischen Arbeit immer wieder ermutigende Anregungen.

Und solche Ermutigungen braucht es dringend. Nach wie vor stellt eine wirklich radikal versuchte Orientierung an einem emanzipatorischen Menschenbild auch innerhalb der Psychotherapie ein Denken und Handeln gegen den mächtigen Mainstream der Zunft dar. Man muss sich da nur die letzten gesundheits- und leider auch standespolitischen Entwicklungen vor Augen führen.

Der "dritte Weg" nach deutendem Verstehen und veränderndem Erklären, den gerade du, Peter, so vielfältig in der personzentrierten Begegnung suchst, führt noch immer gegen eine Überzahl von Interessen und Motiven. Diese ganz und gar nicht naive Suchrichtung nach dem "wirklichen Leben als Begegnung" und damit nach möglichst herrschaftsfreien Diskursmöglichkeiten wird in der nur so genannten "kollegialen", interdisziplinären Diskussion häufig noch immer beinahe verächtlich verharmlost oder – was besonders schmerzt – in eigenen Reihen verwässert, wie du einmal formuliertest.

Um den Abschluss meiner kurzen Rede schon einmal anzukündigen, noch einmal in Kürze meine Antwort auf deine Frage nach dem ehrenwerten Leben: Ich glaube ich verfehle – vor dem hier nur angedeuteten Hintergrund – den Wert der Frage, wenn ich versuche, die Antwort zu finden. Vielleicht liegt der gelungenste Versuch, einem ehrenwerten Leben näher zu kommen, in der von dir vorgelebten Unermüdlichkeit, sich dieser Frage auszusetzen. Sie bleibt mir umso dringender offen, je mehr Antworten ich zu finden glaube.

Lieber Peter, ich danke dir noch einmal für deine so häufigen, profunden, unermüdlichen und auch mir ganz persönlich gegebenen Ermutigungen, gegen die Angst, die Hybris und den Gehorsam anzugehen. Ich weiß, dass nicht nur ich, sondern viele schon heute neugierig sind, was deine eigene Suche nach dem ehrenwerten Leben noch alles bringen wird – und ich freue mich, dass ich über den noch ausstehenden vierten und mächtigsten Feind des Lebens – nämlich

das Alter

– zu dem hier gegebenen Anlass deines erst 50. Geburtstages noch nicht sprechen muss.

Wie am Anfang so auch am Ende möchte ich dir noch eine Geschichte in Erinnerung rufen, die allerdings nun tatsächlich vom hohen Alter und der auch dir so eigenen ungebrochenen Sehnsucht nach dem Verstehen vom Unbekannten handelt. Sie wurde uns erzählt von Doug Land, unserem gemeinsamen Freund und Lehrer, der uns mit dieser Geschichte das Wesen seines Freundes Carl Rogers näher bringen wollte.

Wenige Wochen vor seinem Tod schlief Rogers vor dem TV-Gerät ein – was einem offensichtlich auch in Amerika passieren kann –; als er erwachte, erlebte er eine weitgehende Amnesie – er wusste nicht mehr, wer er sei, er kannte seinen Namen nicht mehr, wusste um seinen Aufenthaltsort nicht mehr Bescheid und auch nicht, welches Datum war. Er hatte sein Selbst verloren und damit seinen gewohnten Aufenthaltsort in Raum und Zeit. Seine Reaktion auf dieses enorm beängstigende Erleben ist nicht nur erstaunlich, sondern zeigt, dass sein ganzes Wesen durchdrungen war vom Wunsch, das Leben im Augenblick und damit in seiner ganzen Tiefe zu verstehen, er versuchte nicht sofort herauszufinden, wer er und wo er denn sei oder welches Datum heute geschrieben werde, sondern nahm sich ein Tonbandgerät, um nun möglichst sensibel und präzise den eigenen Erfahrungen nachzugehen und zu verstehen, was er jetzt gerade in seinem Inneren erlebte.

Ich möchte dir von ganzen Herzen alles Gute zu deinem 50. Geburtstag wünschen.

Peter Frenzel

Mag. Peter Frenzel ist  Klinischer Psychologe und Gesundheitspsychologe, Personzentrierter Psychotherapeut, Supervisor und Ausbilder im Institut für Personzentrierte Studien der APG, Managementtrainer und Wirtschaftspsychologe, Mitbegründer von TAO (Team für Arbeits- und Organisationspsychologie) und Kaleidos (Arge für Systemische Supervision), Mitbegründer der PCA, Lehrbeauftragter der Uni Linz, prominenter Theoretiker des Personzentrierten Ansatzes.

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