Ute Binder
Ein anständiges Leben unter unanständigen Bedingungen


Wien, 20. Mai 2000


Seit über 30 Jahren arbeite ich zusammen mit meinem Mann in freier Praxis. Mein Arbeitsschwerpunkt ist hierbei die personzentrierte Psychotherapie mit Menschen mit Psychosen.

Lassen Sie mich ein Zitat von Fontane an den Anfang stellen:

„Das Glück, wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: Darin, dass man ganz da steht, wo man hingehört, und zum zweiten und besten in einem behaglichen Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, dass man ausgeschlafen hat und dass einen die neuen Stiefel nicht drücken.“

Ich denke da zu stehen, wo man hingehört setzt voraus einen Platz auf der Welt und unter Menschen zu haben, wo ein gegenseitiges Verstehen von Fühlen, Denken und Handeln gegeben ist.  Bei aller Vielfalt menschlicher Individualität, besteht in jeder Kultur ein Konsens sozialer Regelungen , durch den uns unser wechselseitiges Verhalten ausreichend vorhersagbar und vertraut ist. So sind  wir alle in ständigem Austausch von Außen und Innen mit uns selbst und anderen verbunden  und haben für unser Handeln, Fühlen und Denken innerhalb eines intersubjektiven Gefüges eine Orientierung.

Ohne eine solche Orientierung will meist auch das  Abwickeln des ganz Alltäglichen nicht so recht gelingen und sowohl Glück als auch Anstand und Ehre werden einem nur wenig zuteil.

Langzeit psychisch Kranke haben so recht keinen Platz in der Welt und bilden keine zusammengehörige Gruppe von Personen, die sich gegenseitig gemeint, gesucht und getroffen hätten.

Gemeinsam ist ihnen lediglich, dass sie in Lebensumständen angekommen sind, in die sie ursprünglich weder gehören noch hinein gewollt haben und in denen sie sich nicht verstehend und verstanden sicher bewegen können, sondern vielmehr ständig sich selbst und andere verletzend anecken.

Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie meist  -  jeder auf seine Weise  -- der Absicht nach ausgesprochen anständige, ehrenwerte Leute sind. Sie versuchen ihr Fühlen, Denken und Handeln streng nach den Prinzipien von Gut und Böse auszurichten  und sind im zwischenmenschlichen Bereich mindestens ebenso prosozial eingestellt  wie andere Menschen auch.

Das eigene Fühlen, Denken und Handeln frei von feigem oder vorteilhaftem Mitläufertum nach der eigenen Einsicht entsprechenden moralischen Kriterien von Gut und Böse auszurichten gilt gemeinhin als höchst ehrenwert.

Hierbei gehen wir aber gewöhnlich davon aus, dass ein Bewusstsein dafür vorliegt, was, wann, wo,  wie und mit wem und welchen wechselseitigen Konsequenzen stattfindet. Letzteres setzt ein Vertraut-Sein mit den sozialen Regeln, Signalen und Reaktionsweisen der Umwelt und eine realitätsangemessene Einordnung derselben voraus. Dieses ist bei psychisch schwer Kranken oft so wenig gegeben, dass die Umsetzung ihrer guten Absichten für andere häufig so verwirrend ist, daß sich Konsequenzen ergeben, in denen sich niemand mehr anständig benimmt und niemand mehr konstruktive Erfahrungen macht.

Hierzu einige Beispiele:

Ein Patient fragt verwirrt und gekränkt: „Ist es böse Hühnerbeine zu essen? Ist es in Ordnung mir deshalb mit der Polizei zu drohen und mich anzuschreien?“

Es handelt sich um einen Anfang 30jährigen jungen Mann, der zu Beginn des Studiums erkrankt war und inzwischen als Schwerbehinderter Bürohilfsarbeiten ausführt. Den Alltag abzuwickeln fällt ihm schwer. Er hat zwar keine neuen Stiefel, die ihn drücken, aber sein Kleidungsstil entspricht in schwer definierbarer Weise nicht dem, was man bei einem ordentlichen, anständigen Menschen gewöhnt ist. Auch sein Verhalten fällt aus dem Rahmen. Meist ganz von seiner Gedankenwelt absorbiert grimassiert er heftig und stößt Töne aus. Er hatte sich Hühnerbeine gekauft, die er, da er in beiden Händen stets mehrere Tüten mit Zeitungen und Büchern trägt, in Papier eingewickelt in die Hosentasche steckte, um in Ruhe nach einem geeigneten Platz zum Verzehr Ausschau zu halten. Dabei fiel ihm auf, dass die öffentlichen Abfalleimer nicht so eingerichtet sind, dass er Papier und Knochen, wie es seinem Umweltbewusstsein entspricht, getrennt entsorgen könnte. Ganz mit dem Müllentsorgungsproblem und der Vorfreude auf ein Hühnerbein beschäftigt, drang er in einen fremden Vorgarten ein, nahm auf einer Mülltonne Platz und zog aus fettiger Hosentasche ein Hühnerbein. Dass der Vorgartenbesitzer ihn empört verjagte und beschimpfte blieb ihm gänzlich unverständlich und verwirrte und verletzte ihn zu tiefst.

Ein anderer Patient, der aus gutsituierter Familie stammte, war stets in teuren Anzügen gekleidet. Eines Tages war er mit einem ehemaligen Studienkollegen in einem Restaurant verabredet und machte sich in seinem schönsten Anzug auf den Weg. Unterwegs wurde es ihm zu warm und, da er sein Jackett nicht zerknittern wollte, zog er Hemd und Socken aus, die er problemlos in seiner eleganten Aktentasche verstauen konnte. Als man ihm im Restaurant zu verstehen gab, dass er unerwünscht sei, war ihm das unbegreiflich. Er konnte sich das Vorkommnis nur erklären, in dem er annahm, dass sein Kollege mit dem Restaurant unter einer Decke steckte und die Szene extra zu seiner Demütigung arrangiert hatte. Empört und verletzt wehrte er sich gegen dieses Unrecht, in dem er den Kollegen mit obszönen Telefonanrufen belästigte. Dieser  -  nun wirklich unfreundlich geworden  -- unternahm dann gerichtliche Schritte. Der Patient fragt sich verzweifelt, warum man ihn erst grundlos demütigen darf und dann, wenn er sich dagegen wehrt auch noch bestrafen darf.

Eine Patientin ist stolz auf ihre musikalische Begabung und ihren guten Geschmack. Musik ist ihr so ziemlich als einzige Möglichkeit ungetrübter Glücksgefühle geblieben. Diese wollte sie mit anderen Menschen teilen. Und so drehte sie ihre Musik eines nachts entsprechend laut. Anstatt dass nun, wie geplant, alle Nachbarn in dem hellhörigen Sozialbau, in dem sie lebte, mit ihr glücklich waren, wurde sie übel beschimpft und beleidigt. Sie sei unverschämt, rücksichtslos und verrückt. Weil die Musik doch so schön war, konnte sie diese Reaktionen nicht darauf beziehen und sie konnte sich nicht erklären, warum die Menschen ihr alle so böse waren.

Als letztes ein Beispiel wo psychotisches Verhalten trotz guter Absicht fremdgefährdend wird:

Eine akut psychotische Patientin kommt zu der Erkenntnis, dass die Menschen so böse und streng schauen, weil sie an der Lieblosigkeit in der Welt erfrieren. Sie spürt wie heiße Wellen von Wärme und Liebe ihren Körper durchfluten und sie glaubt die Kraft zu haben alle die Erfrierenden  mit ihrer Wärme und Liebe retten und heilen zu können. Um die Menschen anzulocken stellt sie Halogen-Scheinwerfer auf die Straße. Die geblendeten Autofahrer ließen sich nicht heilen, sondern riefen die Polizei. Und die Frau wurde, wie es leider vorkommt, unsanft zwangseingewiesen.

Diese Kranken versuchen oft am falschen Ort und zur falschen Zeit und in falscher Art und Weise das Richtige zu tun. Hierbei sind sie sehr konkret und eindimensional und losgelöst vom sozialen Kontext am eigenen moralischen Verständnis von Gut und Böse, Recht und  Unrecht orientiert und richten damit für sich und andere mehr oder weniger katastrophale Verwirrungen an. Im allgemeinen sind es vorwiegend die Kranken selber, denen Unrecht widerfährt, in dem sie, ohne ein Bewusstsein oder eine Wahrnehmung dafür zu haben womit sie es tun Befremden  auslösen und in der Folge Demütigungen, Aggressionen und Ausgrenzungen auf sich ziehen.

Motivational ehrenwertes, anständiges Handeln, das so krass abweichend von allgemeinen sozialen Regeln und ohne im Zusammenhang verständliche zwischenmenschliche Signale abläuft wird nicht als solches erkannt. Es ist vielmehr geeignet im Gegenüber negative Reaktionen zu wecken, die von ablehnender Intoleranz über Demütigungen und Beleidigungen bis zu aggressiven Entgleisungen und Missbrauch führen. Bei der Fülle des über die Zeit erlittenen Unrechts ist es kein Wunder, dass sich bei vielen dieser Patienten starke Gefühle von Angst, Wut und Bitterkeit entwickeln. Dennoch pflegen sie meist im Grundsatz verzweifelt am inneren Anstand festzuhalten, da dies ihre einzige Orientierung in einerzunehmend unverständlichen und bedrohlichen Welt, in der sie die Regeln immer weniger verstehen, darstellt. Die sich hierdurch meist ergebende zunehmende soziale Isolation führt dazu, dass man in der Welt immer weniger Plätze findet, wo man hingehört und sich immer stärker auf den Platz in seinem Inneren zurückzieht. Hier entfaltet sich dann die selbe Vielfalt von Wünschen, Ängsten und Leidenschaften im Alleingang wie bei anderen Menschen im Austausch miteinander.

Aufgabe des Therapeuten ist es sicher nicht diesen Menschen ihren Platz im Inneren zu nehmen, sondern ihn gemeinsam mit ihnen aufzusuchen und ihnen zu helfen zaghaft Fühler in die Außenwelt auszustrecken und Verbindungen herzustellen.

Ich denke unser personzentrierter Ansatz und unser Verständnis des Menschen als grundsätzlich soziales Wesen, das auf einen ständigen Austausch von außen und innen angewiesen ist um sich entfalten zu können, ist am ehesten geeignet die Isolation zu durchbrechen.

Die über Carl Rogers hinausgehende Auffassung von Peter Schmid von Menschen als primär intersubjektive Wesen hilft besonders hier, wo nach allgemeinem Verständnis so wenig Veränderungschancen gesehen werden, zu einer  -  wie auch immer rudimentären - emotionalen Verbindung und damit konstruktiver therapeutischer Arbeit zu kommen.

Dr. Ute Binder, Klientenzentrierte Psychotherapeutin in freier Praxis in Frankfurt am Main, eine der bedeutendsten Theoretikerinnen der Personzentrierten Psychotherapie, im besonders im Bereich der Empathieforschung und der Arbeit mit psychisch schwer beeinträchtigten Personen, sie ist International Consultant des Instituts für Personzentrierte Studien, IPS, Wien.

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